Zum Auftrag der Bundeszentrale und der Landeszentralen für politische Bildung
An der Schwelle des 21. Jahrhunderts stehen die Menschen national wie international vor grundlegenden politischen, sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Herausforderungen, die existenziell in das Leben gegenwärtiger und zukünftiger Generationen eingreifen. Im Übergang von der Industrie- in die postindustrielle Gesellschaft werden durch technologische Entwicklungen und globale ökonomische Transfers in fast allen gesellschaftlichen und politischen Bereichen gravierende und sich ständig beschleunigende Veränderungsprozesse ausgelöst. Soziale und ökologische Effekte folgen. Die Veränderungen in der postindustriellen Gesellschaft sind äußerlich vor allem gekennzeichnet durch eine multimediale Informationsflut von unterschiedlichen Nachrichten", denen der Einzelne ausgeliefert ist (Informationsgesellschaft). Chancen und Risiken sind nicht mehr regional eingrenzbar. Sie werden verteilt und wirken auf alle zurück. Besonders deutlich zeigt sich diese Entwicklung z.B. bei der drastischen Reduzierung der Arbeitsplätze und den damit verbundenen einschneidenden Veränderungen in der Lebenssituation der Menschen.
Diese technischen Veränderungsprozesse scheinen aufgrund ihrer langfristigen Wirkungen und globalen Orientierung unumkehrbar und korrespondieren u.a. mit einer zunehmenden Verunsicherung der Menschen angesichts der unüberschaubaren und zeitgleich angebotenen Fülle von Daten, Fakten und Informationen. Der Einzelne entwickelt sich zum Informationsriesen, bleibt aber ein Bildungszwerg. Denn innerlich hat sich parallel ein gewaltiger Wertewandel vollzogen, der gleichsam Voraussetzung zur Beschleunigung dieses Prozesses war und nun im Ergebnis selbst von dieser multimedialen Flut befördert wird: Individualismus, Egoismus, Entsolidarisierung, Auflösung von generationsübergreifenden Wertmaßstäben der christlich-abendländischen Tradition, bedingungslose Konsumorientierung und -haltung sind Stichworte, die diesen Prozess beschreiben. Die damit einhergehende Pluralisierung der Gesellschaft mündet in eine wachsende Ablehnung dauerhafter Bindungen (in den individuellen Beziehungen genauso wie in Parteien, Verbänden, Kirchen usw.) und einer ausgeprägten Distanz zu der Welt der Politik (s. z.B. Wahlverhalten). Wenn auch diese Distanz zu spezifischen Formen der Politik und Parteienwelt nicht mit politischem Desinteresse überhaupt verwechselt werden darf, so ist sie dennoch eine Herausforderung für die politische Bildung.
Zur gleichen Zeit muss weiter an der inneren Einheit Deutschlands gearbeitet werden. Viele Menschen haben einen Systemwechsel zu verkraften, der generell neue Antworten und Lösungen erforderlich macht. Die Menschen spüren, was ihnen abverlangt wird, und da sie sich oft nicht wirklich vorbereitet, sondern überfordert fühlen, reagieren nicht wenige mit Ängsten, mit Orientierungslosigkeit und Aggressivität. In Ost und West muss engagiert an der inneren Einheit Deutschlands weitergearbeitet werden.
Der demokratische Rechtsstaat lebt vom mündigen Mitdenken und Mittun seiner Bürgerinnen und Bürger und ihrer Bereitschaft, sich selbst- und sozialverantwortlich ein Urteil zu bilden, in der Verfassung normierte Regeln und Werte zu respektieren und sich für sie zu engagieren. Demokratie muss in jeder Generation neu erworben werden: gerade in Deutschland aufgrund der Erfahrungen der jüngsten Geschichte. Politische Bildung im öffentlichem Auftrag leistet insbesondere hier einen fortdauernden und unverzichtbaren Beitrag zu persönlicher und gesellschaftlicher Orientierung sowie zur Entwicklung und Festigung demokratischer Einstellungen und Verhaltensweisen.
Angesichts der umfassenden gesellschaftlichen, ökonomischen und technischen Veränderungen steht die politische Bildung vor neuen Aufgaben und Herausforderungen. Der Zukunftsorientierung der politischen Bildung kommt insbesondere auf dem Hintergrund sich verändernder Rahmenbedingungen eine große Bedeutung zu.
Die Bundeszentrale und die Landeszentralen für politische Bildung erbringen auf dem dargestellten Hintergrund Leistungen, die von keiner anderen Einrichtung übernommen werden können. Andere Träger der schulischen und außerschulischen politischen Jugend- und Erwachsenenbildung sind in der Bildungslandschaft von größter Bedeutung und leisten wichtige Beiträge für die politische Bildungsarbeit. Sie können in die Arbeit der Landeszentralen sinnvoll und effektiv einbezogen werden und ergänzend zum Angebot der Landeszentralen und der Bundeszentrale zu einer pluralistischen politischen Bildung beitragen. Den Landeszentralen kommt dabei eine originäre Schlüsselfunktion zu, indem sie die Einbindung dieser Bildungsträger in ihre Arbeit koordinieren und damit die Vielfalt politischer Deutungsmuster und Handlungsmöglichkeiten sowie die Ausgewogenheit des Angebots garantieren. Durch Beratung, Unterstützung und Förderung kann die Qualität und Effektivität des Bildungsangebots anderer Träger gesteigert und die Pluralität gesichert werden.
Die aufgrund der jeweiligen Gesetze bzw. Erlasse überparteilich arbeitenden Zentralen bieten das ideale Forum, um alle demokratischen Kräfte zusammenzuführen. Sie erreichen auch Menschen, die dem mitverantwortlichen Handeln in Parteien und anderen gesellschaftlichen Organisationen zurückhaltend gegenüberstehen. Die inhaltliche Arbeit der Zentralen vollzieht sich unabhängig und ohne Weisungen. Das ist ein entscheidendes Element für die Akzeptanz ihrer Arbeit.
Die Arbeit der Bundeszentrale und der Landeszentralen ergänzen sich optimal. Bei der föderalen Struktur ist es möglich, auf die Bedürfnisse der Menschen auch in ihrem heimatlichen Bereich einzugehen und so die Arbeit den jeweiligen Gegebenheiten der verschiedenen Bundesländer anzupassen.
Politische Bildung im öffentlichen Auftrag ist unverzichtbar und darf nicht dem Markt überlassen werden. Vielmehr muss sie als Gemeinschaftsaufgabe aller Beteiligten angesehen und weiterentwickelt werden.
Unsere moderne Gesellschaft im Umbruch - zumal in einem zusammenwachsenden Europa - fordert die Demokratiekompetenz der Bürgerinnen und Bürger auf eine besondere Weise heraus. Sie müssen sich auf Neues und Fremdes einlassen. Das gilt besonders für die Jugendlichen, die sich nicht in großer Zahl am politischen Leben beteiligen. Durch Tagungen, Wettbewerbe und jugendgemäße Aktivitäten eröffnen die Zentralen Zugänge zum demokratischen Mitmachen. Besonders Frauen sind nach wie vor zu wenig in der Politik vertreten. In vielen Projekten fördern die Zentralen daher das politische Engagement von Frauen. Darüber hinaus sprechen sie mit einem breiten Seminar- und Publikationsangebot verschiedene Zielgruppen - insbesondere Mittlerinnen und Mittler - an und motivieren und befähigen zahlreiche Bürgerinnen und Bürger zur aktiven Beteiligung an politischen Prozessen. Nur eine Bürgerschaft, die auf qualifizierte Weise am Zustandekommen dessen teil hat, worüber entschieden wird, steht auch in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche zur Demokratie.
Da sich der Wandel in unserer Gesellschaft so dramatisch und rasant vollzieht, muss man den Menschen Hilfestellung anbieten. Die Zentralen stellen sich den gesellschaftlichen, ökologischen und politischen Umbrüchen und setzen sich mit den damit verbundenen Problemen auseinander. Sie nehmen neue Themenstellungen in ihre Bildungsarbeit auf und müssen auch zukünftig für neue Inhalte offen sein (z.B. Globalisierung und ihre wirtschaftlichen und sozialen Folgen, Europa, Technikfolgen, Ökologie). Ihnen kommt darüber hinaus die Aufgabe zu, ggf. auch unpopuläre Themen zu besetzen und in die politische Bildung einzubringen. Die Arbeit der Zentralen für politische Bildung trägt dazu bei, komplexe Zusammenhänge besser zu verstehen und verschiedene Lösungsansätze kritisch zu diskutieren. Neben der Öffnung für neuartige Inhalte ist die Entwicklung, Umsetzung und Evaluierung neuer Methoden und Beiträge zur Didaktik der politischen Bildung von großer Bedeutung. Hierzu gehört neben der Nutzung neuer Techniken und Medien im Bildungsbereich (z.B. Internet) auch die Erprobung neuer Arbeitsweisen und Vermittlungsformen (z.B. Einbeziehung externer Kompetenz aus Wissenschaft, Politik, Praxis; Kooperationen mit anderen Trägern). Politische Bildung steht nicht im Gegensatz zur beruflichen Qualifikation, sondern ist Voraussetzung für ein erfolgreiches berufliches Handeln. In einer veränderten Arbeitswelt, in der das Gebot der ökonomischen Rationalität längst an ihre Grenzen stößt, sind vom Einzelnen neue Qualitäten gefordert, die Kreativität, Urteilsfähigkeit und Verantwortungsbewusstsein einschließen. Die politische Bildung stellt mit der Heranbildung und Förderung politischer Urteilsfähigkeit eine wichtige Schlüsselqualifikation dar, die auch in der Arbeits- und Wirtschaftswelt zunehmend gefragt ist.
Eine "wetterfeste" Demokratie muss auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten stabil bleiben. Die Zentralen tragen im Zuge der Globalisierung der Wirtschaft und ihrer Folgen zur Versachlichung der politischen Auseinandersetzung bei und verhelfen der Einsicht zum Durchbruch, dass die Demokratie dann sicherer ist, wenn eine Gesellschaft nicht über ihre Verhältnisse lebt. Sie arbeiten für eine aktive Bürgergesellschaft, die den Staat als Summe aller Bürgerinnen und Bürger begreift und nicht als ein dienstleistendes Gegenüber.
Die finanzielle Unterstützung der Bemühungen der vielen freien Träger politischer Bildung muss staatlich garantiert und verantwortet werden, damit die Arbeit gerade in schwierigen Phasen nicht gefährdet wird.
In den neuen Bundesländern fällt der politischen Bildung die wichtige Aufgabe zu, im Umbruch von Diktatur und zentralistischer Planwirtschaft zu Demokratie und sozialer Marktwirtschaft die Bereitschaft der Bürger für eigenverantwortliches politisches Handeln zu wecken und zu fördern. Über die Vermittlung von Kenntnissen über demokratische Institutionen und rechtsstaatliche Strukturen hinaus sind Angebote für die Einübung in eine demokratische Streitkultur und Meinungsvielfalt notwendig. Zugleich muss die Achtung vor anderen Einstellungen geweckt werden. Nur so können Bürgerinnen und Bürger für politische Aktivitäten befähigt werden. Zugleich kann politische Bildung den Verantwortlichen in Verwaltung und Parteien den Bürgerwillen nahe bringen, die Nöte der Menschen und ihre Erwartungen nach bürgernahen und transparenten Entscheidungen thematisieren und in diesem Sinne vermittelnd und mobilisierend in Entscheidungsfindungen eingreifen.
Es ist darüber hinaus eine zentrale Aufgabe politischer Bildung, den Vereinigungsprozess für die Menschen in Ost und West begreifbar zu machen. Das erfordert ein aktives und verstärktes aufeinander Zugehen.
Politische Bildung muss sich mit den totalitären Erfahrungen intensiv auseinander setzen, damit durch die Erinnerungsarbeit die Irrtümer der Vergangenheit künftig vermieden werden können. Die Zentralen für politische Bildung arbeiten eng mit den Gedenkstätten zusammen.
Das Profil der Arbeit der Zentralen ist gekennzeichnet durch
Tagungen, Seminare, Foren, Kongresse und Studienfahrten
Publikationen zu wichtigen Themen
Lehr- und Lernmittel zur politischen Bildung
Entwicklung neuer Methoden und Nutzung neuer Informationsvermittlungstechniken
Ausstellungen und Wettbewerbe
Aufbau und Koordination eines Netzwerks der politischen Bildung
Unterstützung und Förderung eines pluralistischen Bildungsangebots.
Den Zentralen für politische Bildung kommt mit der Vielfalt ihrer Methoden und Arbeitsweisen sowie ihren Möglichkeiten, diese auch künftig weiterzuentwickeln, eine unverkennbare Funktion zu, die nur von ihnen erfüllt werden kann.
Auf der Basis dieses Positionspapiers leisten die Landeszentralen und die Bundeszentrale für politische Bildung eigenverantwortlich ihre gemäß den jeweiligen rechtlichen Grundlagen spezifische Arbeit.
Gewiss lässt sich der Ertrag politischer Bildungsarbeit nicht mit ökonomischen Kategorien von Input und Output berechnen. Ebenso können kurzfristige Effizienzüberlegungen kein taugliches Kriterium für politische Bildungsarbeit sein. Dennoch ist sicher: Bildung verändert Denken und Verhalten der Menschen, vermittelt Orientierung und ist damit eine Investition für die Zukunft. Bildungsarbeit - d.h. Entwicklung von Materialien, die Bereitstellung eines pluralen Informationsangebots, die Durchführung vielzähliger und verschiedener Bildungsveranstaltungen - erfordert einen hohen finanziellen Aufwand. Eine ausreichende materielle Ausstattung ist daher Voraussetzung für eine erfolgreiche politische Bildungsarbeit in öffentlicher Verantwortung. Gelder, die in die politische Bildung investiert werden, tragen gute Zinsen.
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